Der Schwarze Hügel

Sie nennen ihn den Schwarzen Hügel. Keine Ahnung, woher der Name stammt, schwarz ist er jedenfalls nicht. Vielleicht etwas Geschichtliches. Ich kann niemanden fragen, aber darüber hinaus interessiere ich mich nicht wirklich für den Ursprung des Namens, denn ich habe meine eigene Interpretation. Im Hier und Jetzt.

Der karge Hügel, der sich vom Meer nach oben zieht, ist vom Geröll und dem lehmigen Boden grau und rötlich-braun. Oberhalb des Lagers stehen farblose Büsche und Bäume. Die Erde auf dem Areal wirkt tot, scheint nur dazu zu dienen, die Verankerungen der Zelte im Boden zu halten. Zelte, eines neben dem anderen, weiß, auf den Planen der himmelblaue Aufdruck der UNHCR. United Nations Refugee Agency. Zwei schützende Hände, umkränzt von Olivenzweigen, bilden ein Dach über einen Menschen. Ein Symbol der Hilfe und des Trostes, das an diesem Ort der Hilflosigkeit, der Trostlosigkeit, nicht verfängt.

Das Lager, Zwischenstation auf Dauer nach einer Flucht aus der Heimat. Heimat, der Ort, an den der Zufall Menschen wirft, kein Verdienst, kein Recht, keine Schuld. Nur Willkür einer unbeeinflussbaren Fügung. Dennoch ist die Heimat Ankerplatz des Lebens, mit seiner Freude, mit seinem Leid. Die Flucht daraus immer von Hoffnung auf eine Zukunft getrieben, von so vielen Versprechen, die man geglaubt, die man sich selbst und anderen gegeben hat. Der Glaube an ein Leben ohne Angst, ohne Willkür und Verfolgung. Mit seinen Händen etwas zu erschaffen, das nicht wieder eingerissen werden würde. Ein Leben mit der Möglichkeit zur Entfaltung, der Sicherheit und Chancen. Man hat den Flüsterern geglaubt, man hat selbst geflüstert.

Flucht. Die Reise durch die Hölle. Die Wurzeln ausgerissen, die Herzen schwer von der Trauer über den Verlust und dennoch beflügelt von der Hoffnung. Eine Reise voller Entbehrungen und Rückschläge, Furcht und dem Glauben, das Richtige zu tun. Das Richtige für sich und jene, für die man Verantwortung trägt.

Und am Ziel angekommen, europäischen Boden unter den Füßen, war man hier gelandet, auf dem Schwarzen Hügel. In einem Lager für besonders Gefährdete und Verletzbare, für alleinstehende Frauen, für Familien, für traumatisierte Menschen. Ein Lager mit Geschichten, denen man nicht glauben möchte, die sich aber Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat bewahrheiten und die jede Zuversicht im Geröll unter den Füßen zermalmen.

Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat im Zelt. Lernen, Essen, Spielen, Leben und Lieben zwischen Planen auf hartem Boden. Vier Quadratmeter pro Familie. In der Enge brüten Angst und Aggressivität. Gelebte Abschreckungspolitik auf dem Rücken der Lagerbewohner.

Wenn der Regen kommt, ist Erde nicht in der Lage das Wasser aufzunehmen und überschwemmt die Zelte. Das Schlagen der Planen im Wind, das Prasseln des Regens, Kälte und Dunkelheit. Staubiger Dreck oder schlammige Brühe. Alles durchsogen von Trostlosigkeit und der Nährboden der Verzweiflung.

Das Lager wird von hohen Zäunen umgeben, an deren oberen Enden sich Maschendraht kringelt. Drei Stunden Ausgang pro Woche. Nach hundertachtzig Minuten wieder dorthin zurück, wo Enge, Eintönigkeit und Hoffnungslosigkeit warten. Die Rückkehr begleitet von Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und dem Weinen der Kinder.

Wie passt das zu den Werten der EU? Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon seit 2009:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Das Lager ist die Ausnahme. Der Ort, an dem der Wertekanon der Europäischen Union verstummt. Oder wie lässt sich das europäische Verständnis von Menschenwürde vereinbaren mit einem Lager in dem es zu wenig Nahrung und sanitäre Einrichtungen, kaum Strom und ungeeignete Behausungen für zu viele Menschen gibt, die anerkannter Weise besonderen Schutz benötigen? Verheddert sich der europäische Begriff der Freiheit nicht in den Schlingen der Stacheldrähte? Verhöhnen nicht Begriffe wie Solidarität und Gleichheit die Bewohner des Lagers? Welche Rechte haben sie? Oder schlägt nicht vielmehr Recht mit eiserner Faust gegen jedes Gewissen?

Journalisten wird Zutritt zum Lager verweigert. Der vierten Instanz werden die Augen verbunden, in der Hoffnung, dass niemand sieht? Denn was man nicht sehen kann, existiert nicht? Vielleicht. Was man nicht sehen kann, vergisst man? Vielleicht.

Die Bilder und die Vorstellung, in diesem Camp leben zu müssen, in feuchten Zelten, tagein-tagaus, mit zu wenig Nahrung, kaum Freiheit, Perspektive und Infrastruktur, aber dafür vervielfachte Sorgen um die Kinder, deren und die eigene Zukunft, machen fassungslos. Die Tatsache, besonders schutzbedürftige auf diese Weise zu behandeln, beschämt. Berichte über die psychischen Schäden der Kinder, bestürzen ebenso, wie die Regungslosigkeit der Europäischen Union. Der Gedanke, dass demokratische gewählte Regierungen ein Spiegel der Gesellschaft sind, und was das über uns aussagt, bereitet Sorgen.

Sie nennen es Moria 2. Ein Ort, an dem sich ein Drama wiederholt. Ein zweiter Teil. Die Welt hat kurz auf das Schicksal von Moria geblickt, sich dann wieder abgewandt. Man hat andere Sorgen. Und keine Frage, diese Sorgen sind riesig, die Probleme wesentlich und verlangen nach Lösungen. Aber darf man deshalb die Menschen in den Lagern vergessen? Ist es nicht eine zivilisatorische Errungenschaft selbst in einer Situation wie dieser noch an andere zu denken?

Kara Tepe. Der Schwarze Hügel. Der schwarze Fleck der Europäischen Union, verdrängt und dennoch existent. Der Makel auf der Weste der Wertegemeinschaft, die man strahlend präsentieren möchte und dennoch wird hier das Versagen, der innere Konflikt und die Uneinigkeit sichtbar. Der Hügel ist ein Ort, den es nicht geben dürfte, über den man hinweglächeln möchte, aber nicht kann. Ein Ort als Symbol der Angst, des Neids und des Verrats an den eigenen Werten.

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Bilder aus dem Lager unter now_you_see_me_moria auf Instagram.

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