Das Öffnen einer Tür

Urlaub. Das bedeutet selbst gewählte Nachrichtensperre. Also eigentlich: Nachrichtenempfangsverweigerung. Keine Zeitung, kein Fernseher. Kein WLAN oder Datenroaming. Nichts. Fast nichts. Nur zweimal am Tag partizipiere ich am EU-Internetpaket meiner besseren Hälfte und kontrolliere E-Mails. Vielleicht ist ja etwas Wichtiges dabei.

Das ist zwar nicht wirklich der Fall, aber bei einer solchen Aktion schlüpft eine „Spiegel“-Eilmeldung durchs Netz. Sickert ein. Wird nicht hinweggefegt von der üblichen Flut anderer Nachrichten, sondern bleibt und setzt sich fest. Wühlt auf und macht beinahe sprachlos.

71 Menschen.

Männer, Frauen, Kinder. Geflohen. Gestorben. Aufgefunden. In Österreich, meiner Heimat. In einem Lastwagen.

Jeder hat davon erfahren.

Ich kann mir nicht ausmalen, mit welchen Hoffnungen, welchen Ängsten, mit welcher Verzweiflung diese Menschen aufgebrochen sind, was sie zur Flucht aus ihrer Heimat und in die Hand von Schleppern getrieben hat. Noch weit unvorstellbarer die Stunden zusammengepfercht in dem, als Geflügeltransport (!) gekennzeichneten LKW. Unvorstellbar, auch weil sich alles in mir dagegen sträubt, die Bilder in meinen Kopf zu lassen. Das Grauen der Tragödie scheint maßlos, das Unverständnis für die Tat ist es ohnehin.

Denn es fällt schwer nicht eine Tat oder (besser ausgedrückt) gnadenlose Tatenlosigkeit zu vermuten. Wäre es nicht mit dem Öffnen einer Tür getan gewesen, die Leben zu retten? Einfach so? Türgriff in die Hand und …

Ist dieses fehlende Öffnen einer Tür nicht symbolisch?

Ich hoffe nur, es will mir niemand erklären, ein Unterschied läge darin, dass es sich um Menschen von (noch) unbekannter Herkunft handle und nicht um Landsleute oder andere EU Bürger …

So grübelnd sitze ich am Mittelmeer, strecke die Füße in den Sand, blicke dem Treiben der Möwen zu und denke, wie viele Menschen in diesem Meer allein nur in diesem Sommer auf ihrer Flucht den Tod gefunden haben. Und langsam verliert der Liveticker der alltäglichen Meldungen seine abstrakte Natur. Dieses Wasser, das meine Zehen umspült, in dem Kinder planschen und das Erwachsene mit Jet-Skis durchpflügen, ist das Grab zahlloser Flüchtlinge. Der Gedanke schmerzt ebenso, wie die satte Ignoranz der Tatsache gegenüber.

Aber wer bin ich? Weder Ankläger noch Richter. Im günstigsten Fall ist die Ignoranz doch die Schutzschicht um die eigene, ansonsten unerträgliche Hilflosigkeit. Aber das sollte jeder mit sich selbst klären.

Mir und meinem Gewissen überlassen, muss ich meine persönlichen Antworten auf die Tragödie finden.

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