Einige Diskussionen über das Buch „Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre liegen hinter mir. „Muss man das lesen?“ war die Frage und um das gleich mal klarzustellen, nein, muss man nicht. Unabhängig von der Beurteilung, was man muss und was nicht (ich will den Bogen nicht zu weit spannen), ist das Buch aus literarischer Sicht für mich keine allzu große Offenbarung und Benjamin von Stuckrad-Barre zwar ein illustrer, aber durchaus auch ein Charakter, den man kritisieren kann. Seine Beziehungen zu dem Verlagshaus, zu dessen Chef und wie viel er dafür kassiert hat. Man mag ihm vorwerfen, er wolle sich mit dem Roman reinwaschen, es nimmt zu sehr die Position des Erzählers ein. Man kann den Autor als Narzissten empfinden, als einen, der sich in den Vordergrund drängt, aber ich will keines dieser Urteile über ihn fällen. Es steht mir einfach nicht zu. Und vielleicht urteilen wir über Einzelne ohnehin oft zu schnell, ohne diese und ihre persönlichen Ambivalenzen zu kennen. Aber das nur am Rande.
Dennoch bin ich ihm wirklich dankbar, dass er dieses Buch geschrieben hat, und ich habe es mir am Tag des Erscheinens besorgt und stolz gepostet. Ich gönne ihm den glücklichen Zeitpunkt beim Erscheinen, der sich mit dem Bekanntwerden der Chatnachrichten des Verlagschefs praktisch überschnitten. Und ich bin den Medien dankbar, die das Thema aufgegriffen haben, wie es getan wurde. Gut, bei den parallel ablaufenden Ereignissen lag das vermutlich nahe, und sie lieben ihren „Stucki“, trotzdem war der mediale Wind meines Erachtens wichtig, um die Aufmerksamkeit wieder (und wieder und wieder) auf das Thema zu lenken.
Aber warum empfinde ich das so? Warum noch einmal den Hype befeuern und feiern?
Aus meiner Sicht geht es natürlich um viel mehr als um das eine Buch. Es ist dies kein nerdiger literarischer Diskurs, sondern es geht um eine gesellschaftliche Diskussion, die ich als besonders wichtig erachte und alles, was uns über das Thema reden lässt, hilft. Und wenn Menschen deshalb darauf stoßen oder wie in meinem Fall darauf gestoßen werden, dass es andere – literarisch vielleicht deutlich bessere – Bücher dazu gibt, dann ist das doch nur eine Bereicherung. Stimmt, ich will einer mehr sein, der Mareike Fallwickls Roman „Das Licht ist hier viel heller“ von 2019 nebenbei wärmstens empfiehlt. Ein wirklich toller Text, der als der erste deutschsprachige Roman über #MeToo bezeichnet und momentan – Stucki sei Dank – wieder mehr gelesen wird.
Und warum ist die Diskussion meines Erachtens wichtig?
Wir leben in einer Gesellschaft, die sich massiv wandelt. Wir sind weitgehend der Meinung in Bezug auf Gleichberechtigung schon viel erreicht zu haben (manchmal mit dem augenzwinkernden Halbsatz versehen „nun is‘ aber auch mal gut!“), aber die Ecke des Machtmissbrauches wurde bis 2017 wenig ausgeleuchtet. Dann kam Weinstein oder vielmehr die Frauen, die die Praktiken des Produzenten öffentlich machten und traten eine Lawine los. Und natürlich ist es wichtig, hier nicht zu einer Vorverurteilung zu kommen, nicht Galanterie oder Höflichkeiten oder ähnliches an den Pranger zu stellen. Die Verunsicherung deshalb erscheint aber vorgeschoben, ein wenig schon ein Vorgeschmack auf die „Opfer-Täter-Umkehr“. Die eingeschnappte Frage „aber was darf man denn heute denn überhaupt noch?“. Einfach mal überlegen und den kategorischen Imperativ anwenden! Und wenn ein Machtgefälle zwischen den Betroffenen besteht, dann befinden sich die Protagonisten einfach auf einer schiefen Ebene. Und wenn das Machtgefälle zu stark wird, dann gibt es für die Person, die unten steht, kein Entkommen und das Wort „einvernehmlich“ verliert in moralischer Hinsicht jede Bedeutung.
Gerade zieht der nächste diesbezügliche Skandal durch die Lande, und es ist keine Sensationslust die Berichte der Frauen zu verfolgen, die erzählen, was während und nach den Shows von Rammstein passiert ist. Gerne hätte ich darauf verzichtet, wer lebt nicht gerne auf Wolke Sieben und alles ist gut. Zudem habe ich jahrelang die Musik der Band gehört (auch wenn ich manche Texte bis zum Ekel abstoßend fand). Und vieles von dem, was die Frauen berichten, mag auch gerichtlich nicht relevant sein, aber gesellschaftlich ist es das. Und mein „Unwohlsein“ darüber, dass die Welt nicht rosarot geblümt ist und „auch der Till, nein der Till, von dem dachte ich immer, der sei ein ganz ein lieber“ (dachte ich nie, aber scheint durchaus Verbreitung zu haben, sodass man sich sogar hinknien möchte) ist NICHTS im Vergleich zu dem, was die Frauen erlebt haben.
Und deshalb ist meines Erachtens diese Diskussion so wichtig – ja, ich finde „das muss!“ – und es ist wichtig, den Opfern zuzuhören. Das hat Benjamin von Stuckrad-Barre getan und einen Roman daraus gemacht.
Übrigens recht „schlüsselig“ finde ich den Roman persönlich nicht, denn es braucht keinen Schlüssel um die Tür zu öffnen, das ist eher so ein Perlenvorhang, zur Seite gebunden, nur ein paar Fäden hängen herab. Und auch dass die Lesung von ihm einen sehr hohen Unterhaltungswert hatte, sei nur am Rande erwähnt.