Nichts gelernt

Lieber Adam,

das Schreiben fällt mir schwer. Kein Wunder bei den steifen Fingern. Vermutlich wird das mein letzter Brief an dich.

Jetzt schreibe ich dir schon so lange. So viele Briefe in meinem Karton. Anfangs schrieb ich dir aus Verzweiflung, weil wir nicht wussten. Dann kamen die Briefe ungeöffnet zurück, und ich habe sie aufbewahrt. Später, als wir die Nachricht bekamen, habe ich dagegen angeschrieben, denn denen konnte man doch nicht glauben. Eines Tages, dachte ich, würdest du zurückkehren und dann wollte ich sie dir in die Hand drücken. Aber der Tag kam nie und der Glaube an ihn verflüchtigte sich. Die Verzweiflung über die Ungewissheit wurde von der Verzweiflung über den Verlust verdrängt, aber ich schreibe dir immer noch.

Gestern bin ich neunzig geworden. Hättest du gedacht, dass ich so alt werden würde? Du hingegen bist in meinen Gedanken noch immer siebzehn.

Den Tag, an dem sie dich geholt haben, werde ich nie vergessen, und unzählige Male habe ich mich gefragt, ob mein Leben mit dir, mit meinem Bruder anders verlaufen wäre. Ich mag nicht mehr zurückdenken, aber es lässt sich nicht vermeiden.

Mein Geburtstag gestern, ich muss dir davon berichten. Alle haben sich Mühe gegeben, sicherlich, aber es kam zum Streit. Ich habe Egon rausgeschmissen – stell dir vor! – meinen Urenkel habe ich vor die Tür gesetzt und alle anderen samt ihrem Krempel nach Hause geschickt. Ich war so wütend und bin es immer noch. Da denkt man, im Alter wird man gelassener …

Wie es dazu gekommen ist?

Die Zeit, zu der sie dich verschleppten, hat sich in mir eingebrannt. Die Angst, der Hass, das Leid, die Verfolgung, der Krieg. Und weißt du, seit einigen Jahren kommt es mir so vor, wie damals, als das alles angefangen hat. Mir wird übel, wenn ich die Nachrichten sehe. Ungläubig starre ich dann auf den Bildschirm, sehe, wie sie durch die Straßen marschieren, ihre Fahnen schwenken und Parolen von damals grölen. Weinen könnte ich vor Zorn.

Gestern dann, mit der ganzen Mischpoche kommt Egon – und er ist einer von denen. Glatt rasierter Schädel, und das Symbol deiner Mörder auf den Hinterkopf tätowiert.

Weißt du was mich am meisten schockiert hat? Allen anderen war es egal! Mir haben sie gesagt, ich solle mich beruhigen, sie fänden es ja auch nicht gut, aber was soll man machen, der Junge habe eben seinen eigenen Kopf, man müsse tolerant sein …

Ich hatte keine Ahnung, dass ich noch die Kraft besitze zu schreien, aber ich habe sie angeschrien, sie sollten nicht feige sein, sie sollten nicht wegschauen, sie sollten sich ihrer Familiengeschichte bewusst sein, sie … Meine ganze Angst habe ich herausgeschrien, weil ich so verzweifelt war, fast so verzweifelt wie an dem Tag, als sie dich holten.

Warum nur haben sie nichts aus der Vergangenheit gelernt, Adam, warum nur?

Jetzt bin ich alt und kann nicht mehr. Ich weiß das. Bald sehen wir uns wieder, Adam, dann wird alles gut. Dann muss ich nicht mehr mitansehen, wie das hier alles endet.

Ich umarme dich,
Deine Judith

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