Aus Anlass eines Hörspiel-Wettbewerbs habe ich einen vor Jahren geschriebenen Text wieder zur Hand genommen und ein wenig überarbeitet. Ich mochte das Stück immer sehr und seine Botschaft und sein Hintergrund liegen mir immer noch am Herzen. Leider hat das Hörspiel nach dessen Entstehen wenig Beachtung gefunden und auf der Webseite ein beinahe vergessenes Dasein gefristet. Vielleicht ändert sich das aber nun.
In dem fiktiven Stück „Bei Sonnenaufgang“, das von tatsächlichen Ereignissen inspiriert wurde, geht es um die Flucht übers Meer. Eine Flucht, die im Drama endet. Die Geschichte handelt nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, von aktuellen Ereignissen oder jenen im vergangenen Sommer. Sie ist bereits 2011 entstanden und die zugrundeliegenden Geschehnisse sind bereits Gegenstand des Geschichteunterrichts. Zudem erfolgte der Versuch der Menschen damals in ein besseres Leben zu gelangen nicht übers Mittelmeer.
Es geht um die Flucht von tausenden Menschen aus der DDR, die den Weg in den Westen über die Ostsee versuchten. Ein paar Zahlen:
Mehr als 5000 DDR-Bürger wagten nach dem Mauerbau 1961 einen Fluchtversuch über die Ostsee. Nach ausgewerteten DDR-Unterlagen endete für 174 die Flucht tödlich, 4522 Menschen wurden entdeckt und festgenommen. Nur 913 Versuche waren erfolgreich. Etwa zwei Drittel der Flüchtlinge waren 14 bis 21 Jahre alt, etwa die Hälfte waren Arbeiter. Die meisten Festgenommenen wurden schon an Land entdeckt. Die auf der Flucht Gestorbenen kenterten mit ihren Booten oder hatten als Schwimmer ihre Kräfte überschätzt. [..] 54 Flüchtlinge gelten heute noch als vermisst. *
Wie erwähnt, mir drängten sich Thema und Geschichte vor ein paar Jahren auf. Natürlich weiß man darüber Bescheid, welche Gefahren Menschen auf sich genommen haben, um dem DDR-Regime zu entrinnen. Auch wenn ich zugeben muss, dass mir die Fakten der Fluchtversuche über die See vor dem Schreiben des Stücks weniger vertraut waren.
Aber egal, denn zu wissen ist das eine, sich einzufühlen das andere. Letzteres stellt für mich stets den unmittelbareren Ansatz dar, zwingt mich zum Schreiben und erlaubt mir in fiktive Schicksale einzutauchen und über das Geschehene aus einem anderen Blickwinkel nachzudenken. Das Ergebnis sind nicht nur die Texte, die ich verfasse, sondern eine emotionale Bindung an die Schicksale.
Auch heute, mehr als 25 Jahre nach der letzten Flucht über die Ostsee, ertrinken noch immer Flüchtlinge im Meer. Tausende. Vor unseren Augen, diesmal im Süden über die weltweit gefährlichste Route für Flüchtlinge. 23.000 seit dem Jahr 2000. Mehr als 3000 alleine 2014. Aber vielleicht abstrahieren die Zahlen zu sehr. Vielleicht sind sie einfach zu groß, um sie fassen zu können und vielleicht gelingt es deshalb häufig sie zu ignorieren. Aber nicht nur die unfassbaren Zahlen, sondern auch die Bilder beginnen abzuperlen. So meinte kürzlich ein deutscher Politiker:
„Wir müssen die Grenzen dicht machen und dann die grausamen Bilder aushalten.“ Man könne sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen.
(Übrigens ist dieser Politiker selbst geflohen, 1959 – aus der DDR. Die Empathie ist aber irgendwo auf der Strecke geblieben.)
Wenn also Zahlen und Bilder ihre Kraft zu berühren verlieren sollten, vielleicht können dann Geschichten zur Seite stehen. Wahre oder auch fiktive. Und vielleicht helfen jene dabei sogar besser, die nur mittelbar mit den aktuellen Geschehnissen zu tun haben, jene, die uns vielleicht von unserer Herkunft her vertrauter sind, ja sich mit der eigenen Geschichte vermengen. Mit Unterdrückung, Angst und Verfolgung der Menschen in der DDR und den Geschichten über die Flucht aus dieser Diktatur ist unsere Vergangenheit verwoben. Vielleicht sollten wir uns daran erinnern.
Und mit ein wenig Transferleistung sehen wir dann vielleicht den kommenden Monaten und den bevorstehenden Ereignissen etwas anders entgegen.
Hier noch einmal der Hinweis zum Hörspiel „Bei Sonnenaufgang“.
* Diese Zahlen ermittelte die Autorin Christine Vogt-Müller für ihr Buch „Hinter dem Horizont liegt die Freiheit…“ (Delius Klasing, Bielefeld 2003) in Akten der Grenzbrigade Küste der DDR, der Stasi-Unterlagenbehörde und der Ermittlungsstelle für Regierungskriminalität (ZERF). Siehe Stern – „Schwimmend in die Freiheit“.
Das ist es, was mich immer wieder verblüfft, was ich nicht und nicht verstehen kann. Dass gerade viele dieser Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten, weil auch sie einst geflohen sind, sich jetzt strikt gegen diese Flüchtlinge stellen. Wie kann man so etwas vergessen